Wird Manipulation jetzt auch bei uns der Standard für öffentliche Organisationen?

Während der „ehrbare Kaufmann“ lange das Rollenvorbild für eine verantwortliche Teilnahme am Wirtschaftsleben war, scheinen einige textile Industrieverbände inzwischen keine Hemmung mehr zu haben, die Wahrheit trotz besseren Wissens über die Risiken für die Gesellschaft im Interesse einzelner Profiteure beliebig zu verbiegen.

Quelle: Pixabay, S.Hermann & F.Richter
Wie sich eine ganze Gesellschaft von Fakenews und Falschinformationen in die Irre führen lässt.

Die Ereignisse der letzten Tage waren in ihrer schockierenden Absurdität angesichts der Bilder vom Sturm auf das Kapitol in Washington durch einen irregeleiteten Mob kaum zu überbieten. Diese Gedanken hatten sicherlich viele von uns: Es war erschreckend, wie viele Menschen in der ältesten Demokratie der Welt sich von frei erfundenen (und lediglich immer wieder überzeugend vorgetragenen) Unwahrheiten in einer Weise in die Irre leiten ließen, dass sie bereit waren, mit Gewalt ihr kostbarstes Gut zu opfern – oder es ihnen ermöglicht war, diese Welle zu nutzen, um ihren fundamentalistischen Überzeugungen einen Weg zu bahnen.

Doch hat es uns gleichzeitig einmal mehr vorgeführt, dass selbst frei erfundene Behauptungen von einer Führungsinstanz ausreichend Macht besitzen, große Teile unserer Gesellschaft in die Irre zu leiten. Dies gilt ebenso sehr für Lügen, mit denen möglichst viele Empfänger der Botschaft zu einer bestimmten Handlung angestachelt werden sollen, wie auch für irreführende Halbwahrheiten, die eine Veränderung in der Gesellschaft verhindern sollen, um den Status Quo zu bewahren.

Eigentlich lassen sich in der heutigen Zeit beide Verhaltensweisen sehr schnell entlarven, da die Faktenlage in diesen Fällen von einer ausreichenden Zahl an glaubwürdigen Quellen diametral den immer wieder sehr plakativ vorgetragenen Behauptungen widersprechen. Aber leider sind wir alle von Informationen inzwischen so überflutet, dass viele häufig aus Effizienzgründen sich nicht die Zeit für eine eigene Recherche nehmen und stattdessen anerkannten Instanzen vertrauen, ohne selbst eine Plausibilitätsprüfung durchzuführen. Getreu dem Motto „wenn diese Leute es sagen, muss es stimmen“ werden vorgegebene Meinungen dann im Vertrauen auf die Aufrichtigkeit der Autorität übernommen.

In der vergangenen Woche waren es für mich allerdings nicht nur die politischen Ereignisse in den USA, die mich schockierten, sondern ebenfalls eine Mitteilung des „Industrieverbandes Veredlung – Garne – Gewebe – Technische Textilien e.V.“ (IVGT), der in seiner Wochenmitteilung auf eine PR-Kampagne des Gesamtverbandes textil+mode mit dem Titel „Textile Helden in Gefahr“ hinwies, an der mehrere Mitgliedsverbände mitgearbeitet haben und die seit dem 18. Dezember 2020 online ist. Mit dieser Webseite möchte der Verband „vor dem Hintergrund der aktuellen und kommenden Beschränkungsverfahren zur Anwendung der Fluorchemie“ den „Unternehmen eine Plattform geben“, um gegenzuhalten.

Auf der Startseite heißt es dann gleich zu Anfang:

Textile Helden in Gefahr:

Die deutsche Textilindustrie ist weltweit führend bei der Entwicklung von Schutzausrüstung für Feuerwehr, Polizei, Rettungsdienste, Ärzte und Pflegekräfte. Doch ob die Frauen und Männer bei der Feuerwehr, der Polizei oder im Gesundheitswesen auch weiterhin mit Schutzanzügen ausgestattet werden können, die sie optimal schützen, ist fraglich. Denn die EU-Kommission will verbieten, dass Textilien mit Fluorcarbon ausgerüstet werden. Viele Helden unseres Alltags sind in Gefahr!“

Diese Form der pauschalen Panikmache ist nicht nur weitgehend substanzlos, sondern zusätzlich auch noch massiv irreführend, wenn es ein wenig weiter unten unter anderem um textile Sonnenschutztextilien geht – oder um Sport- und Outdoor-Bekleidung. Anscheinend gibt es keine Hemmung in den Verbänden, das Thema Schutzanzüge heranzuziehen, um Stimmung gegen eine EU-Initiative zum allgemeinen Schutz der Bevölkerung gegen die Kollateralschäden dieser Industrie anzuheizen, und dabei gleichzeitig einer erheblich breiteren Produktpalette Unterschlupf zu bieten.

Wer sich bereits mit dem Thema Fluorchemie beschäftigt und den angesprochenen Prozess in der EU in den letzten Monaten verfolgt hat, wird erleichtert festgestellt haben, dass nach vielen Jahren endlich versucht wird, die Beweislast einer Chemienutzung umgzukehren, die unter der Bezeichnung „Ewigchemie“ bekannt und berüchtigt geworden ist. Diese Gruppe (PFCs bzw. PFAS) von fast 5.000 unterschiedlichen chemischen Substanzen ist ausschließlich menschengemacht und so widerstandsfähig, dass sie sich in der Natur nie auflösen wird. Für einige ihrer Verbindungen (die in der Vergangenheit auch von der Textilindustrie sowohl in Form von C8-Beschichtungen als auch in der Fertigung von PTFE-Membranen intensiv eingesetzt wurden) ist längst die Gefährlichkeit für die menschliche Gesundheit nachgewiesen, sobald sie in die Umwelt freigesetzt werden. So können sie, einmal in den Körper gelangt, u.a. in das Hormonsystem eingreifen, das Fortpflanzungssystem sowie das Immunsystem beeinflussen und die Entwicklung bestimmter Krebsarten begünstigen. Inzwischen liegen sogar Forschungsergebnisse vor die darauf hindeuten, dass einige kurzkettige PFAS die Gefahren durch schwere Konsequenzen einer Corona-Virus-Ansteckung verdoppeln und die Impfwirkung behindern könnten.

Wo dies zweifelsfrei belegt wurde, wurde eine kleine Zahl der jeweiligen PFAS zwar inzwischen nach langwierigen Beweisverfahren verboten und häufig durch PFAS mit einer anderen chemischen Struktur ersetzt. Letztere sind aber dadurch nicht minder persistent und weder die Tatsache, dass noch nicht ausreichend Erfahrung über ihre Toxizität vorliegt, belegt, dass sie minder gefährlich sind, noch eine (wissenschaftlich unsubstanziierte) Bezeichnung von „PFC ohne Umweltbedenken“, wie sie manche in unserer Industrie für sich wählen.

Quelle: Pixabay, Hannes Edinger
Irreführung der Verbraucher: Nachhaltig oder nicht nachhaltig? Das ist hier die Frage!

Um sich einmal als Verbraucher selbst einen objektiven Eindruck über die dahinterliegende Industrie zu verschaffen, empfiehlt es sich dringend, den Ende 2019 in Hollywood entstandenen Kinofilm „Vergiftete Wahrheit“ von Todd Haynes mit Mark Ruffalo in der Hauptrolle des Anwaltes Rob Bilott anzuschauen, der den Skandal um die Produktion von Teflon® (chemisch „Polytetrafluorethylen“ – in der Outdoor-Industrie auch unter der Bezeichnung PTFE bekannt) durch die Firma DuPont™ aufdeckt. Der Film, der inzwischen auch von verschiedenen Streaming-Diensten angeboten wird, beruht nicht nur auf echten Tatsachen, sondern es verschlägt einem schlicht die Sprache angesichts der jahrzehntelangen Skrupellosigkeit, mit der die Fluorchemie-Industrie ihre Profitinteressen vor offensichtliche Gesundheitsgefährdungen der Öffentlichkeit gestellt hat. Dass es genau diese Industrie ist, die sich jetzt von Verbänden als „Helden“ verteidigen lässt, ist schlichtweg eine unanständige Geschmacklosigkeit.

In Wahrheit ist die aktuelle Stoßrichtung der EU auch lediglich, diese Chemie nur noch für sogenannte „essentielle Anwendungen“ zuzulassen – d.h. genau diejenigen Produkte, die zum einen lebenswichtig und zum anderen „alternativlos“ in diesen Anwendungen sind, weil es keine Ersatzmaterialien mit vergleichbaren Eigenschaften gibt. Dies gilt sowohl für volatile Beschichtungen als auch für industrielle Fertigungsprozesse von Materialien, bei denen – wie z.B. PTFE – diese Stoffe eingesetzt werden und dabei in die Umwelt gelangen können. Von einer Gefährdung der Helden kann also überhaupt keine Rede sein, denn genau diese sollten von der Regelung ausgenommen sein. Allerdings scheint jetzt eine ganze Reihe an anderen Anwendern als Trittbrettfahrer auf diesen Zug aufspringen zu wollen.

Die breite Verherrlichung einer solchen Industrie als alternativloser Lebensretter ist nicht nur grotesk, sondern geradezu geschmacklos gegenüber all denjenigen, die inzwischen an den gesundheitlichen Folgen der Fluorchemie erkrankt sind oder noch erkranken werden – denn diese Chemie, einmal in molekularer Form in die Umwelt über Wasser oder Luft freigesetzt, verschwindet nie wieder aus unserer Nahrungskette, sondern reichert sich in vielen Fällen dort immer weiter an. In Europa ist es unter anderem Holland, das über Jahrzehnte durch das DuPont™ -Werk in der Nähe von Rotterdam flächendeckend mit überhöhten PFAS-Einträgen im Boden belastet wurde. Die Tatsache, dass DuPont™ diesen Produktionsbereich der Fluorchemie 2015 zeitnah zu dem im Kinofilm beschriebenen Skandal um PTFE unter dem neuen Namen Chemours™ abgespalten hat, spricht für sich.

Die Wahrheitsverzerrung durch die Verbandsinitiative wird besonders dadurch auf die Spitze getrieben, dass mit dieser Kampagne auch für Produkte Ausnahmen erreicht werden sollen, die mitnichten lebenswichtig bzw. für die es ausreichend Alternativen gibt. Die suggestive Darstellung, dass beispielsweise ausschließlich die Fluorchemie im Outdoor-Sport „trocken hält, Erfrierungen vermeidet und im Zweifel Leben rettet“, wie es auf der Webseite des Verbandes heißt, ist angesichts seit langem bewährter, für fast alle Anwendungen ausreichend leistungsstarker Alternativen nicht nur unverfroren, sondern auch wettbewerbsverzerrend. Nicht nur mutige Pioniermarken wie Vaude oder Bleed setzen seit Jahren auf fluorchemiefreie Membranen und PFC-freie Imprägnierungen, sondern inzwischen auch andere renommierte Marken wie Jack Wolfskin, Haglöfs und Mammut, um nur ein paar zu nennen.

Quelle: Pixabay, Gerd Altmann
Fakenews und -informationen für den Verbraucher. Lieber zweimal hinschauen und sich gründlich vorab informieren.

Gekrönt wird die Initiative durch Rechtfertigungsversuche wie der Aussage, dass Fluorchemie in Outdoor-Bekleidung essentiell sei, um mögliche Flecken von Sonnencreme auf Skianzügen zu verhindern, wie der Nachhaltigkeitsbeauftragte einer renommierten Marke, die PTFE-Membranen nutzt jüngst in der Presse argumentierte (und es auch in einem internen Positionspapier der Verbände gegenüber der EU enthalten ist). Dies ist angesichts der potentiellen Gefahren und ungeklärter Konsequenzen der Fluorchemie für zukünftige Generationen geradezu zynisch. Anstatt transparent dem Verbraucher eine objektive Wahl zwischen den Vor- und den Nachteilen unserer Produkte zu vermitteln und im Falle nicht essentieller Anwendungen oder verfügbarer Alternativen unserer Verantwortung als Industrie nachzukommen, wird einseitig verherrlicht und aus Eigeninteresse nicht davor zurückgeschreckt, jede Grenze des Anstandes zu überschreiten.

Es wird Zeit, dass wir endlich unsere Verantwortung als Industrie wahrnehmen und aktiv nach Alternativen suchen, um Verbraucherbedürfnisse und den Schutz der Umwelt durch tatsächlich nachhaltige Kleidung in Einklang zu bringen, anstatt alte Bastionen zu verteidigen, die längst ihre moralische Grundlage in der Vergangenheit verspielt haben.

Quelle: Pixabay, Comfreak
Die textile Kreislaufwirtschaft ist unsere Chance, Prozesse der Textilherstellung so nachhaltig zu gestalten, dass auch das drin ist, was versprochen wird.

Unsere dringendste Aufgabe, die Prozesse beim Einsatz von synthetischen Kunststoffen als textile Fasern so umzubauen, dass sie in einer Kreislaufwirtschaft immer wieder schadlos genutzt werden können, ist herausfordernd genug. Da sollten wir unseren Fokus darauf richten, uns wenigstens von einer Chemie zu verabschieden, die nachweislich bereits genug Schäden verursacht hat, anstatt sie ungerechtfertigt zu verherrlichen.

Im §1 des aktuell gültigen deutschen IHK-Gesetzes heißt es: „(1) Die Industrie- und Handelskammern haben, (…) zu unterstützen und zu beraten sowie für Wahrung von Anstand und Sitte des ehrbaren Kaufmanns zu wirken.“ Es ist an der Zeit, dass wir dies auch für Verbände einfordern, denn sie werden von vielen als glaubwürdige Instanzen wahrgenommen.

Bis dies eingehalten wird, und zwar sowohl für Initiativen, die unseren Interessen dienen, als auch für diejenigen, die ihnen widersprechen, werden wir aus den entsprechenden Verbänden austreten. Denn wir werden nicht einen Trend unterstützen, dessen drastischste Auswirkungen wir in der letzten Woche im Fernsehen verfolgen konnten.

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